Wer Mindset sagt
Seit nun einem Jahr darf ich diesen Blog mit meiner großartigen Sparringpartnerin Franziska unterhalten. In der steten Hoffnung, der Leserschaft ein kleines Schmunzeln zu entlocken und ihr im besten Fall etwas Nachdenkliches mit auf den Weg in die nächste Trainingseinheit zu geben, hat sich die Anfertigung der Texte für meine Wenigkeit als eine kleine Therapiesitzung entpuppt. Innehaltend und die vergangenen Wochen Revue passieren lassend, gleichwohl stillsitzend und der Gefühlslage freien Lauf lassend, mögen meine Texte nicht selten sarkastisch überspitzt daherkommen. Ebenso aber freue ich mich, euch auch mit tiefgründigen Beiträgen Gesellschaft leisten zu dürfen. Wie es heute um mich bestellt ist? Finden wir es heraus.
Mit vollem Tatendrang bin ich ins neue Jahr gestartet. Jedoch blieb es zunächst beim Drang, denn die Taten fielen der auch weiterhin vorherrschenden Winterbluesstimmung zum Opfer. Der Mailverkehr noch immer stockend, die Straßen auch nach Raclette und Feuerwerk wie leergefegt. Erstaunt darüber, wie viele Menschen sich weiter als passionierte Skifahrer erweisen, begnügte ich mich mit der Vierschanzentournee. Auf dem Rollentrainer. Ein wahrer Highperformer tut sich schwer damit, die Füße hochzulegen und Ruhe einkehren zu lassen. Immerhin aber verinnerliche ich das gängige Bestreben oder Achtung Unwort, Neujahrsvorsatz, meiner Komfortzone wieder häufiger zu entfliehen. In der Economy-Class. Ab ins Trainingslager!
Raus aus der Komfortzone | Foto: Marcel Hilger
Im berühmtberüchtigten Playitas Resort auf Fuerteventura herrscht den Januar über Hochbetrieb. Nachdem ich dort zwei Mal mit dem Nationalkader mein Unwesen getrieben hatte, oblag mir im Jahr 2021 die Ehre, meinen heutigen Trainer Sebastian kennenzulernen. In der vivienda uno durfte ich ihm, derzeit noch unter Pandemieauflagen, als Trainingspartner Gesellschaft leisten. Während ich Stunde um Stunde an seinem Hinterrad klebte, immer in (unerfüllter) Zuversicht eines Kaffeestopps, konnte ich ihm zumindest in unseren zur morgendlichen wie auch abendlichen Routine gewordenen hitzigen politischen Debatten Paroli bieten. Als dieser weltweit für seine Integrität geschätzte Typ dem von der PTO angeheuerten Kamerateam sodann in meiner Anwesenheit kundtat, mir Jungsporn gehöre die Zukunft und um die nächste Generation sei es doch nicht so schlecht bestellt, wie er einst annahm, da ich, man mag es kaum glauben, der erste ihm beiwohnende Triathlet gewesen sei, der ein gedrucktes Buch mit ins Camp brachte und mich auch sportlich nicht verkehrt anstelle, da lief ich rot an.
Ja, es stimmt eben doch. In Heidelberg wird studiert, und sich gelangweilt. Im Gegenteil zum ersten postpandemischen Jahr, einstmals noch wohnhaft in diesem mickrigen und sich jeglicher Preisfindungslogik entziehendem Einzimmerapartment in der Heidelberger Weststadt, in dem sich die Wochenzeitungen stapelten, ich mich jeden Morgen genüsslich Kaffee schlürfend für eine gute Stunde meiner Morgenlektüre widmen konnte und mir außerdem bereits in jungen Jahren anmaßte, mein erstes Essay zu veröffentlichen, beschränkt sich meine Morgenlektüre heute auf einen kurzen Blick in die FAZ-App. Weil ständig irgendwelche Emails reinflattern und mehr oder minder ergiebige Zoom-Konferenzen organisiert werden müssen. Das waren noch Zeiten.
Sebastian Kienle: Von der Finishline auf die Trainerbank | Foto: Marcel Hilger
Außer dieses Umstandes, das Leben holt einen früher oder später ein, hat sich in Bezug auf das diesjährige Trainingslager aber gar nicht so viel geändert. Schon damals hatte Sebi das Sagen und wurde nicht müde, mir mit viel Rat zur Seite zu stehen. Schon damals war der Koch unserer Dreimannbelegschaft von sämtlichen Verpflichtungen hinsichtlich des Abwasches entbunden. Und ist keine Milch mehr im Kühlschrank, werden die Cornflakes auch heute noch mit Wasser und Proteinpulver angerührt. Lediglich den Schwimmeinheiten, man kann es ihm kaum verübeln, trauert Sebi nicht nach. Doch auch am Beckenrand macht er mit seiner 120dB Pfeife und übergroßem Footballtrikot eine durchaus gute Figur. Und nach zwei Wochen des Büffetplünderns und einer halben Tube Chamoiscreme später war auch der letzte Bewohner des Resorts plötzlich im Hyrox-Fieber.
Im Playitas wird sich nicht ungern gegenseitig beäugt und genauso, oder vielleicht gerade darum, gehört es zum guten Ton, eine jedwede Unterredung mit der Frage nach der Dauer des Aufenthaltes einzuleiten. Zwei Wochen, da sind sich alle einig, reichen völlig. Und deshalb hieß es schon bald wieder Koffer packen. Nochmal Trainingslager. Was ein privilegiertes Arschloch ich doch bin.
Im Trainingslager ist Fokus angesagt | Foto: Simon Gehr
Auf dem spanischen Festland, respektive Girona, war es zwar einen Kittel kälter, wie meine Großeltern auf der Alp zu sagen pflegten, doch es wird gemunkelt, dass sich auch der Norden Spaniens ganz gut für die Vorbereitung der Triathlonsaison eigne. Bis vor kurzem noch assoziierten wir besagte Kleinstadt ja mit dem näher zu definierendem Begriff des Zuhauses. Doch weil meine Kaffeemaschine wie auch mein Wenn-dann-da-Ordner dieser Tage in Budapest aufzufinden sind, wurden wir von Bekannten an Triathleten verwiesen, welche uns offerierten, ein freistehendes Zimmer in ihrem Apartment anzumieten. Und da standen wir nun. Mitten in der Nacht, nach einem langen Reisetag mit reichlich verspäteter Ankunft. In einem 24-Stunden Supermarkt. Um Putzutensilien zu besorgen.
Wusstet ihr, dass ein Klo, wenn man eine leere Klopapierrolle zwischen Klobrille und Deckel klemmt und auf ebendiesen zwei noch volle Klopapierrollen deponiert, dass dieses Klo dann aussieht wie ein Frosch, der eine Zigarette raucht? Ein weiteres Mal sollte ich meiner Komfortzone entfliehen. Aber wie auch immer. Ist ja auch irgendwie lustig, wenn man morgens total verknittert ins Bad stolpert und die Toilette derart präpariert auffindet. Ebenso ist es ja auch durchaus praktisch, wenn alle Bewohner der Einfachheit, andere würden behaupten der Hygiene halber, die Laufschuhe bis zur Bettruhe anbehalten. Alles eine Frage des Mindsets.
Doch auch wenn ich mitunter erleichtert war, gespülten Radflaschen auf der Anrichte des Waschbeckens und Zoom-Konferenzen, selbstredend mit Ringlicht, an der Bettlehne hängend, nach zwei weiteren Wochen ein Ende zu setzen und so langsam, aber sicher Vorfreude darüber einsetzte, schon bald, zumindest bis auf weiteres, nicht mehr aus dem Koffer leben zu müssen, muss ich sagen, dass auch diese Erfahrung in Anbetracht der Weltgeschehnisse, der FAZ-App sei Dank, bei genauerer Betrachtung ziemlich lehrreich war. Mit meiner Dreimannbelegschaft hatte ich bereits auf Fuerteventura sarkastisch gescherzt, welches geschichtliche Ereignis uns wohl dieses Jahr heimsuchen wird. Im Jahr 2021 war es der Sturm auf das Kapitol, das Sebi und mich in unseren Nachrichtenprovider unseres Vertrauens versickern ließ. Ein Jahr zuvor mehrten sich Meldungen über die Ausbreitung eines neuartigen Virus und im Jahr 2022 sollte der schreckliche Angriffskrieg auf die Ukraine für Schaudern sorgen. Den Januar dieses Jahres prägten deutschlandweite Demonstrationen gegen ein Erstarken von rechts. Und so pathetisch es klingen mag, ließ mich dies vieles mit anderen Augen sehen. Denn wie cool ist bitte der Sport. Wie schön und beinahe selbstverständlich ist es doch, dass ich mir deutsche Kartoffel mit meiner besseren Hälfte aus Ungarn eine Wohnung mit einem Slowenen, einem Briten und einem Schweizer geteilt habe und dies, nun einmal unabhängig von Sauberkeitsstandards, doch sehr harmonisch verlief. Toleranz und Vielfalt, nur ohne Demonstrationsschilder.
Beim Schwimmtraining ist Disziplin gefragt | Foto: Nina Ludwig
Das Training, dies nur der Vollständigkeit halber, lief den ganzen Januar über fantastisch. Zwar könnte man dieses zumeist auch gut in seiner Wohlfühloase abspulen, manchmal, denn es geht bei dem Flug ins Trainingslage nicht vorrangig um Strand und Sonnenschein, ist es aber auch zielführend, sich für eine bestimmte Zeit einer Gruppe anzuschließen, vor der Flinte eines Trainers zu arbeiten oder Höhenluft zu schnuppern. Immer unter der Prämisse, jene Bedingungen früher oder später wieder durch das gewohnte Trainingsumfeld ersetzen zu können, ist es allgemeinhin zuträglich und führt einem die Vorzüge der eigenen vier Wände vor Augen. Aber apropos Wohlfühloase, ich war mittlerweile wieder in Budapest gelandet. Auch hier werde ich tagtäglich herausgefordert. Auf einen Reiz folgt eine Anpassung und genau deshalb ist es auch aus trainingswissenschaftlicher Sicht wichtig, der Komfortzone hin und wieder zu entrinnen. Die ungarische Schwimmschule, so viel durfte ich bereits lernen, beruht in größtem Maße auf der Fähigkeit, Schmerz zu tolerieren, oder trainerdeutsch: Ermüdungswiderstandsfähigkeit. Angeleitet wird eine jede Früheinheit von Gyouri und Gyouri ist so eine Art Typ, wenn der sagt 5er-Atmung, dann schwimmst du verdammt nochmal 5er- Atmung. Wie Sebi eigentlich, nur 40 Kilogramm schwerer und Motivationssprüche zierende TShirts tragend. Dream, believe, achieve. Wer Mindset sagt, hat den Verstand verloren.