Locker bleiben
Ich deaktiviere den Flugmodus meines Smartphones. Es ist schon nach Mitternacht, als wir endlich in Hamburg landen. Auch dieser Flug würde sein Ziel mit reichlich Verspätung erreichen. Von wegen deutsche Pünktlichkeit, nörgelt mein italienischer Nebensitzer. Wenige Stunden zuvor, ich hatte mir gerade eine Bandbreite an Podcasts heruntergeladen, da erblicke ich Nicola. Nicola kenne ich schon eine ganze Weile und war doch überrascht, ihn hier am Gate A16 in Budapest anzutreffen. Beide waren wir zu knausrig und haben die Sitzplatzauswahl dem Algorithmus überlassen. Nun sitzen wir Seite an Seite - was für ein Zufall. Er erzählt mir von seinem letzten Rennen, dem traditionsreichen Weltcup im ungarischen Tiszaujvaros. Nicht gut, nicht schlecht, aber die Punkte seien eingetütet. Als er mir sodann von den Tücken einer Solo- Wettkampfreise berichtet, da werde ich nostalgisch. Denke zurück an all jene Trips, die ich im Zeichen er Weltrangliste bestritten hatte, all die Erfolge, die ich auf internationaler Bühne feiern durfte und verdränge doch gänzlich jene Stunden, die ich zusammengekauert, ausgehungert und ohne die anvisierten Weltranglistenpunkte im Gepäck auf Langstreckenflügen überbrückte. Es ist ein hartes Business und wir beide müssen lachen, als ich unsere Unterhaltung auf unser Kennenlernen im Ausgang lenke. Zehn Jahre ist das schon her: Im Rahmen des Qualifikationsbewerbes für die olympischen Jugendspiele, meines ersten internationalen Wettkampfes, verschlug es uns ins niederländische Nachtleben. Im Rennen selbst war ich vor den Augen meiner Mama bitterböse gestürzt und beendete den Sprinttriathlon mit gekrümmtem Lenker, aber einem beherzten Lauf auf dem zehnten Gesamtrang. Wie auch Nicola verfehlte ich die Qualifikation und saß doch wenige Tage später freudestrahlend im Teambus zurück gen Freiburg. Die deutsch-italienische Verbrüderung, sie hatte Folgen: Internationaler Kurzdistanz-Triathlon, das war von nun an mein Ding.
Die Konzentration auf die Kurzdistanz gerichtet | Foto: Simon Gehr
Kaum eine Menschenseele mehr am Hamburger Flughafen. Lediglich ein Dutzend Triathleten wartet noch am Gepäckband. Es hatten sich noch mehr AthletInnen in die Eurowings-Maschine geschlichen. Alle sind wir sichtlich gezeichnet, müde, gleichwohl gestresst, schließlich würden wir drei Tage später beim WM-Rennen am Start stehen und müssen doch tief schlucken bei der Aussicht auf den Zeitplan des schon angebrochenen Donnerstages: Rad aufbauen, Medientermine, Briefing, dazu die tägliche Trainingsroutine, Mahlzeiten und Teammeetings. In Zeiten, in denen die Regeneration im Profisport medial glorifiziert wird und unsere Konkurrenz schon in ihren Träumen zu schlummern vermag, würden wir das Hotel frühestens gegen 1 Uhr erreichen. Wir alle wirken unentspannt, als der Shuttle-Obmann seine Hotelzuordnung vornimmt. Ich versuche den lethargischen Bann zu brechen und weise eine britische Mitreisende darauf hin, dass wir es dem Kollegen des Shuttle-Unternehmens nun wirklich nicht leicht machen, da keiner der hier Anwesenden seine oder ihre Nationaluniform trage. Sie beschwichtigt: Der Verband übernehme keinen Cent der Anreise. Nicola pflichtet ihr bei. Ich ebenso. Mitternacht am Hamburger Flughafen: Eine Schicksalsgemeinschaft, aber eben doch eine Gemeinschaft.
Am darauffolgenden Morgen fällt mir das Aufstehen schwerer als sonst. Die Augenlieder wollen noch nicht so recht oben bleiben. Eine kleine Schlenderrunde entlang der Alster soll Abhilfe schaffen und mir auch etwas Orientierung geben. Seit meiner Ankunft in HAM hatte ich mich in die Hände der Organisation begeben. Von der Rezeption war ich freundlich in mein Doppelzimmer überwiesen worden und hatte mir in Windeseile noch ein Paar Gummibärchen aus der Lobby in die Tasche gesteckt, doch unabhängig davon so mitten in der Nacht recht wenig um mich herum wahrgenommen. Kaum fünf Minuten war ich unterwegs, bis ich ein munteres „Moin, Jannik“ hinter mir vernehme. Matt Hauser, der das Rennen zwei Tage später gewinnen sollte, hatte sich an diesem Donnerstag schon früh die Laufschuhe geschnürt. Respekt, denke ich mir in meiner morgendlichen Trägheit und komme nicht umhin, ihm von unserer beschwerlichen Anreise zu berichten. Er hingegen schwärmt, was für ein herrlicher Morgen es doch sei: „Take it easy man. Go grab a coffee. See you at breakfast!“
"Coffee first!" | Foto: Margaux Le Map
Von dieser jugendlichen Leichtigkeit, welche die australische Delegation seit jeher in europäische Gefilde importierte, würde ich auch später an diesem Tage noch berichten. In einem Podcast-Interview mit einem renommierten Triathlon-Magazin, der Name ist Programm, werde ich auf meine Anfänge im Triathlon angesprochen. Doch entgegen der gewöhnlichen chronologischen Abarbeitung werden dieses Mal die richtigen Fragen gestellt als ich von meiner unbeschwerten und doch sportlich sehr erfolgreichen Zeit als Student an der Universität des Saarlandes berichte. Viel trainiert, viel gefeiert und doch Rennen gewonnen - ob mir diese Lockerheit im Laufe der Jahre verloren gegangen sei, fragt mein Gegenüber. Absolut, entgegne ich forsch und fasele irgendetwas von Partys und Älterwerden. Keine Antwort, die mir im Nachhinein schlaflose Nächte bereitet hätte, und doch ein Thema, das es wert ist, sich ihm in aller Ruhe am Schreibtisch anzunähern. Schließlich hatte ich besagte Lockerheit nicht nur gelebt, sondern eben auch von meinem geliebtem Trainer Klaus-Peter gelehrt bekommen. Als ich bei der Deutschen Meisterschaft im Jahr 2016 mit jugendlicher Euphorie als Erster auf die Radstrecke stürmte und mich sodann mit sechs Mitstreitern vom Rest des Feldes distanzieren konnte, gab er mir nur eines mit auf den abschließenden Fünfkilometerlauf: Locker bleiben. So wurde ich Deutscher Meister der U23 und feierte als Junior meinen bis dato größten Erfolg im Triathlon. Eine Leistung, welche wir als Trainingsgruppe im Nachgang natürlich ausgiebig zelebrieren wollten. Klaus-Peter wies die Älteren lediglich an, gut auf „den Kleinen“ aufzupassen. Gesagt, getan, und Spaß gehabt.
Leider aber war dieses olympische Jahr nicht für alle so erfolgreich, wie es die Vorgaben des Dachverbandes vorsahen. Nach der Misere von Rio sollte eine Fülle an Veränderungen unserer Trainingsgruppe, ja dem deutschen Triathlonsport an sich, neuen Wind einverleiben. So wurden Strukturreformen verabschiedet, welche dazu führten, dass ausgewählte Athleten der Trainingsgruppe verwiesen wurden. Weiter wurde das Trainerteam ausgewechselt und es ging plötzlich in aller erster Linie darum, die innerdeutsche Konkurrenz der anderen Stützpunkte in Schach zu halten. Obwohl alle Beteiligten mit Herzblut bei der Sache waren, stagnierte meine Leistung. Ich verletzte mich und traf Entscheidungen mit einer Tragweite, die ich nie für möglich gehalten habe, waren sie für mich doch alternativlos. Auf der Suche nach einem neuen Weg, nach meinem Weg, sollten aber auch Entscheidungen anderer die Wirkmacht besitzen, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Nie vergessen werde ich den Abend vor der U23 Weltmeisterschaft in Lausanne, an dem mich unser Sportdirektor zum Gespräch in die Lobby bat. Ich hatte den Qualifikationsprozess erfolgreich durchlaufen und mich den ganzen Sommer über explizit auf dieses Rennen vorbereitet. Vier kräftezehrende Wochen hatte ich in der Höhe trainiert, um dann am Vorabend des Rennens meines Stützpunktes, meines Lebensmittelpunktes verwiesen zu werden. Es folgte ein Sturz in die sportliche Selbstständigkeit, mitten in das krisengebeutelte Pandemiejahr 2020, ein Umzug und ein neues Umfeld. Gleichzeitig aber auch ein gewisse Trotzhaltung, jetzt erst recht. Ja, irgendwann beginnt man Ziele auszuschreiben und diese öffentlich zu kommunizieren. Man blickt vermehrt nach rechts und links, und ist genötigt, sich eine gewisse Ellenbogenmentalität zu Eigen zu machen. Neid und Missgunst werden zum täglichen Begleiter, die sozialen Medien zum Katalysator. Man versteift sich auf Fördersummen und Personalfluktuation, sieht einen elitären Kreis, zu dem man nicht gehört.
Schneller Wechsel und Abfahrt! | Foto: Simon Gehr
Heute weiß ich all das gut einzuordnen. Hier in Hamburg bin ich Teil des Teams und genauso schnell wieder alleine auf weiter Flur, wenn ich die geforderten Weltranglistenpunkte nicht einfahre. Ich genieße den Luxus eines Radmechanikers, einer Physiotherapeutin und sportfachlicher Auseinandersetzungen mit dem anstehenden Wettkampf, und weiß doch um seine Endlichkeit. Mein Gegenüber spricht mich auf den Zwiespalt an, in welchem ich mich derzeit befinde, schließlich hatte ich mich den ersten Teil der Saison ja ausschließlich der Mitteldistanz verschrieben. Nach der verpassten Olympiaqualifikation und all den damit einhergehenden Strapazen empfand ich auch diese Entscheidung als alternativlos. Ich brauchte frischen Wind, und das jenseits von Weltranglistenpunkten. Gleichzeitig war und bin ich mir mit meinem Team darüber im Klaren, dass die etwas längere Distanz meinen Stärken mehr entgegenkommt als das Kurze und Explosive, bei dem Zehntelsekunden im aggressiven Renngeschehen über Sieg oder Niederlage entscheiden. Und doch fällt es mir schwer, mich diesem gänzlich zu entsagen. Zu viele tolle Momente durfte ich doch teilen, zu viele Wettkampfreisen und Trainingslager in den Kreisen mich faszinierender Menschen verbringen.
Generell glaubt man ja immer, das Gras seie auf der anderen Seite grüner. Doch auch auf der Mitteldistanz litt ich in diesem Frühjahr an chronischer Unzufriedenheit. Länger denn je hatte ich mich den Winter über akribisch auf die neuen Herausforderungen vorbereitet und wurde in Valencia sogleich belohnt: Dritter Platz und die direkte WMQuali bei meinem ersten 70.3 Rennen überhaupt. Die Tage danach war ich motivierter denn je, doch versteifte mich sogleich auf die Dinge, die ich hätte besser machen können, um zumindest den epischen Zielsprint um Platz zwei für mich zu entscheiden. Obwohl mir das mediale Echo zweifelsohne den Stellenwert dieses Resultates vor Augen führte, überspannte ich den Bogen im Nachgang des Rennens ein wenig. Und leider sollte dieser leichte Infekt nur der Beginn einer Serie von, sagen wir, unglücklichen Fügungen sein. Nachdem ich das Wasser um Mallorca als Führender verließ, mache ich den entscheidenden Fehler heute früher aus. Respektzollend und gleichwohl kräftesparend hatte ich mich die ersten zehn Kilometer hinter zweien der wohl stärksten Radfahrern unseres Sportes versteckt. Am Berg wurde es plötzlich hektisch und ich erreichte das Kloster Lluc zwar am Schwanz der Führungsgruppe, fiel im Bergabstück allerdings einer Unachtsamkeit eines vor mir Fahrenden zum Opfer und befand mich urplötzlich in der Verfolgung. Die Krönung meines Lehrtages in puncto Mitteldistanz-Dynamik folgte sodann: Eine fünfminütige Zeitstrafe.
In der Gruppendynamik ist Konzentration gefragt! | Foto: Marcel Hilger
Letztlich haben mich die Nachwehen von Valencia zu der Entscheidung bewogen, das Rennen auf Mallorca frühzeitig zu beenden, denn zwei Wochen später wollte ich endlich zeigen, was in mir steckt, wollte mich belohnen für all die Arbeit, die ich den Winter über investiert hatte und meine Leistung in einer Platzierung widergespiegelt sehen. Im Kraichgau habe ich viele Dinge besser gemacht, habe mich bedeutend geschickter angestellt habe auf dem Rad und auch den ein oder anderen Akzent im Verlaufe des Renngeschehens setzen können. In idealer Ausgangssituation ging es auf die Laufstrecke und ich dachte nur „heute, na endlich“. Dann aber, im Begriff, die Führung zu übernehmen, und so ganz ohne Vorwarnung, viel hatte ich von ihm gelesen: Der Mann mit dem Hammer. Das tat weh, vor allem mental. Auch von Gründen, die eine Mitteldistanz zum Scheitern verurteilen, hatte ich allerlei gelesen, vorrangig auf den sozialen Netzwerken. Leider aber konnte ich weder eine verlorene Radflasche, eine abhanden gekommene Salztablette oder einen gerissenen Einteiler für meinen Motorplatzer verantwortlich machen. Mein Körper aber sendete mir in den sich anschließenden Wochen Signale: Womöglich war es ein etwas zu straffes Programm während meiner ersten Saison auf der Mitteldistanz. Ein wenig Abstand half mir, Punkte zu relativieren und mein Selbstvertrauen wiederzufinden, wenngleich ich auf einen gezerrten Hüftbeuger, eine Rückenblockade sowie einen Radsturz gerne verzichtet hätte und ohne diese Umstände heute, einen Tag vor dem WM-Rennen in Hamburg, sicher mit bedeutend breiterer Brust in diesem Podcast- Interview sitzen würde: Wie es danach weiter gehe? Das wird man sehen. Am Ende des Tages bedarf es klarer Entscheidungen, aber keiner überstürzter. Ich sehe mich heute in der privilegierten Situation, diese Entscheidungen treffen zu können. Eine Freiheit, die andere nicht haben, oder nicht haben wollen. Ich konzentriere mich auf mein sportliches Fortkommen und bin der festen Überzeugung, dass sich Dinge fügen werden. So bleibe ich Optimist und sehne mich nach Klaus-Peter an meiner Seite, der eines nicht müde wurde, zu betonen: Immer locker bleiben.