Offseason sucks
Es gibt wenige Dinge, bei denen meine Vorstellung und die tatsächliche Realität so weit auseinanderdriften, wie bei dem Wort „Offseason“.
Besonders gegen Ende der Saison male ich mir das in meiner Fantasie ganz wunderbar in den buntesten Farben aus: Endlich ein paar Wochen nichts als Dolce Vita. Nach Lust und Laune in den Tag hineinleben. Leckeres Essen und Trinken konsumieren. In maßlosen Portionsgrößen. Schlafen. Viel schlafen. Und all die anderen schönen Dinge tun, für die man sonst einfach keine Zeit hat:
Dolce Vita | Foto: Marcel Hilger
In Cafés bei Flat White Nummer drei (oder vier?) den Tag verstreichen lassen. Sich abends unter dem beflügelnden Einfluss von Kaltgetränken die Nacht um die Ohren schlagen. Endlich mal wieder die Oma besuchen. Und ganz wichtig: Freunde treffen, die man sonst einfach nicht zu Gesicht bekommt, weil sie kein Rennrad besitzen, um Treffen superpraktisch mit einer Trainingseinheit zu verbinden, blöderweise auch nicht die Leidenschaft teilen, kilometerweit zu laufen und Schwimmbäder im Regelfall nicht frequentieren, um dort Kacheln zu zählen.
Soll ich euch sagen, wie viele von den genannten Vorhaben in meiner Offseason in die Tat umgesetzt wurden?
Richtig geraten.
Aktuell sitze in einer Wohnung, die bis unter die Decke mit unausgepackten Kisten vollgestopft ist und darauf wartet, von einem Matratzenlager mit schlechter Beleuchtung in ein wohnliches Zuhause verwandelt zu werden (der Zauberspruch dazu ist mir gerade bedauerlicherweise entfallen).
Ich habe es zum ersten Mal seit drei Wochen geschafft, eine anleitungskonform angeschlossene Waschmaschine nicht nur zu befüllen, sondern den Inhalt auch auf einem Wäscheständer zu drapieren, der mit seinen Metallfüßen den Boden berührt und zu meiner ganz besonderen Überraschung auch zu beiden Seiten ausgeklappt werden konnte. Es sind die kleinen Dinge im Leben.
In a hurry! | Foto: Marcel Hilger
Mein Anbieter feiert jedes Mal eine kleine Party, wenn ich wieder zusätzliches Datenvolumen zu exorbitanten Preisen nachbestelle. Der Mann von der Telekom war zwar pünktlich erschienen, um den DSL-Anschluss freizuschalten, der Raum, in dem sich der hierfür nötige APL befindet, jedoch nicht zugänglich und der im Besitz des Schlüssels befindliche Hausmeister seit Einzug verschollen und telefonisch nicht erreichbar.
Meine Ernährung besteht seit geraumer Zeit aus rauen Mengen an Lieferpizza und Toast. Ich habe seit über zwei Wochen keinen Meter in sportlicher Form zurückgelegt. Vielleicht könnte man Kisten schleppen noch irgendwie als Krafttraining verbuchen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich aktuell Rücken-, Nacken, Knie- und Schulterschmerzen zu beklagen habe, wurde das Trainingsziel allerdings auch irgendwie verfehlt.
Dabei wollte ich doch eigentlich rundum erholt zurück in den Trainingsalltag starten. In meiner Fantasie hätte ich nach meinem letzten Rennen Ende Oktober noch fix einen kleinen Job in Frankfurt erledigt und wäre dann ganz entspannt in den Umzug gestartet. Mit ein paar zusammengetrommelten Freunden (ja genau, die ohne Rennrad), klappt doch immer wie am Schnürchen. Die ganzen Kartons hätten sich quasi von selbst in die bereits aufgebauten Regale gezirkelt, die perfekt in die neue Wohnung gepasst hätten wie in die Alte. So meine Theorie.
Ein Umzug als Grenzerfahrung | Foto: Marcel Hilger
In der Praxis wurden in unserem mühevoll aufgestellten und sorgsam selektierten Umzugsteam nicht nur schon vorab herbe Verluste verzeichnet - der Krankheitswelle und einem Fußballspiel des FC Bayern, ja richtig gehört, sei Dank. Am Ende bröckelte dann sogar der harte Kern: Der Schwiegerpapa lag nach einem Tag getaner, harter Arbeit mit Fieber im Bett, der Verlobte gesellte sich alsbald mit einem Hexenschuss dazu. Die vorgesehenen Transportmittel reichten vorne und hinten für den ganz bescheidenen Zwei-Personen-sieben-Fahrräder-Hausstand nicht aus. Der in mühevoller Kleinstarbeit abgebaute imposante Kleiderschrank passte nicht in die vorgesehene Nische und lagert nun zusammen mit den angeschlagenen Umzugspatienten im Keller der Schwiegereltern. Hinzu kommt mein ganz persönliches Versagen, sowohl mit meiner Steuererklärung als auch meinem Job in Frankfurt nicht um ein paar Tage, sondern in einem der beiden Fälle um mehrere Jahre im Verzug zu liegen und somit nicht nur einen immer näher rückenden Drucktermin, sondern auch das Finanzamt im Nacken sitzen zu haben. Sonst noch was?
Na klar: Ich habe es geschafft, zu allem Überfluss mein Portemonnaie zu verlieren und verfüge aktuell weder über Ausweispapiere noch über geeignete Zahlungsmittel. Kurz gesagt – alles wie immer. So wie dieses Jahr bin ich bereits im letzten Jahr durch die Offseason gestolpert. Und nächstes Jahr wird mit der geplanten Hochzeit sicherlich auch nicht weniger entspannt. Bis darauf, dass ich dabei hoffentlich ein bisschen schöner aussehen werde als jetzt gerade mit meinen seit Tagen ungewaschenen Haaren, einer fleckigen Leggins und dem dunkelblauen Pulli, den die Aufschrift „Deutsche Straßenlaufmeisterschaft 2017“ ziert. Der wäre dann schon das Sportlichste an mir. Und ich fühle mich auch ungefähr so fit, als sei meine letzte Trainingseinheit so lange her.
Locker, leicht und spielerisch: ein seltenes Glück in der Offseason | Foto: Damien Rosso
Ich weiß nicht, wie es andere Leute schaffen, sich am Ende ihrer Offseason nicht so zu fühlen, als bräuchten sie eine Offseason von der Offseason. Möchte aber allen, auf die dies zutrifft, mit unüberhörbarem Neid in der Stimme herzlich dazu gratulieren und all denjenigen, auf die dies nicht zutrifft, auf diesem Wege mit noch viel mehr Mitgefühl und Solidarität mitteilen: Ihr seid verdammt nochmal nicht allein.
Ich bin heilfroh, wenn diese Zeit des Jahres vorbei und das strukturierte Training sowie die damit verbundene Routine wieder eingekehrt ist. Denn die Aussicht, dass dieser elende Zustand nur vorübergehend sein wird, ist auch schon der einzige tröstliche Gedanke, der mir dazu gerade einfällt:
Eigentlich kommt es in der Offseason gar nicht darauf an, konzentriert auf den Zeitraum von ein paar Wochen all die schönen Dinge zu machen, die man im restlichen Jahresverlauf entbehrt hat. Es ist stattdessen doch viel besser, auch während der Saison die Erholung, den Genuss und das, was Freude macht, nicht zu kurz kommen zu lassen.
Wir müssen nicht innerhalb einer begrenzten Zeit im Jahr all das abarbeiten und zwanghaft auskosten, was wir uns sonst vom Mund absparen. Denn Verbote und Verzichte während der Saison sind in gewisser Weise eher kontraproduktiv: Wenn man etwas wirklich gerne mag, gibt es uns positive Energie. Hier und da ein bisschen was davon erhöht die Motivation und wir tun uns sowohl im Alltag als auch im Training sehr viel leichter.
Die Luft ist nur im sprichwörtlichen Sinne raus | Foto: Marcel Hilger
Denn mal ganz ehrlich: Zwei Wochen Burger, Döner, Pommes (oder was man sonst eben am liebsten mag) am Stück klingt in der Vorstellung verlockend, tut uns auf Dauer aber wahrscheinlich weniger gut, als sich zwischendrin und in regelmäßigen Abständen was zu gönnen. Bis dahin stelle ich mich noch meiner neuesten Herausforderung: Mich ummelden, obwohl ich mich dank des nach wie vor nicht aufgetauchten Portemonnaies nicht ausweisen kann und der für solche Momente eigentlich sehr hilfreiche Reisepass unglücklicherweise seit drei Jahren abgelaufen ist.
Verdammt nochmal, wie leicht sind im Vergleich dazu ein paar süße VO2max-Intervalle mit anschließendem Koppellauf? Wie frisch ist man danach im Kopf und wie klein wird auf einmal der ganz normale Wahnsinn, der täglich auf uns einprasselt?
Ich habe echte Sehnsucht danach, Trainingseinheiten abzuspulen. Eine nach der anderen und dabei endlich wieder abschalten zu können. Zum Beispiel von dem Bürokram, den ich schon vorvorgestern in meiner Steuerkanzlei hätte abgeben sollen und der nach wie vor unausgepackt unter dem Kistenberg um mich herum begraben liegt. Diese Erkenntnis ist am Ende doch irgendwie der beste Grund, warum es so etwas wie eine Offseason gibt. Und deshalb stelle ich hiermit fest: Ziel erfüllt. Kann wieder losgehen. Ich bin startklar.