Gedanken in der Off-Season
Leute, ich hab’s wirklich versucht. Beinahe manisch habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um so etwas wie Offseason-Stimmung aufkommen zu lassen. Während mir der Algorithmus bereits Strandbilder, Urlaubscocktails und nicht selten in diesem Zusammenhang auch Verlobungsringe präsentierte, hatte ich mich einem weiteren Rennen verschrieben. Der 70.3 Bahrain war auf Anfang Dezember datiert und ich erinnere noch gut, wie ein befreundeter Papa verdutzt dreinblickte, als ich ihm von meinen Plänen berichtete, hatte er mit seinem Sohnemann doch von Kindesbeinen an regelmäßig den Kaiserstuhl Triathlon Anfang September zum Saisonabschluss erkoren. Ja, aus Sommersport wird heute Wintersport. Also je nach Sichtweise, beziehungsweise Breitengrad.
In Bahrain fror ich keineswegs, ganz im Gegenteil. Und ärgerlicherweise verlief auch der Wettkampf an sich recht zufriedenstellend und war doch insgesamt sehr motivierend in Bezug auf zukünftige Herausforderungen. Folglich fiel es mir schwer, eine standesgemäße Saisonpause einzuläuten, schließlich waren um mich herum alle Berufstätigen im Vorweihnachtsstress und auch alle anderweitig Gleichgesinnten schon wieder am Machen, am Tun, am HUSTELN. Nebst der Tatsache, dass ich bei Minusgraden auch nicht so wirklich in Cocktailstimmung zu bringen war, hatte sich zum Bedauern meines hedonistischen Alter Egos etwas anberaumt. Meine Masterthesis war fällig und in Folge dieses unscheinbaren, aber mit Ausrufezeichen versehenen Eintrages in meinem Kalender wich die Sehnsucht nach einem Strandurlaub der, wie ich eingangs empfand, sehr reifen Einsicht, eine alternative Definition von Trainingspause zu ersuchen.
Während ich also den Dezember vorrangig am Schreibtisch verbrachte, merkte ich schnell, dass ein wenig Frühsport die Produktivität an ebendiesem merklich steigert. Und da meine Partnerin sowieso früh raus musste, sah ich mich schon bald wieder dick eingepackt (und nun auch wieder frierend) zur Schwimmhalle schlendern. Zumindest machten die herrschenden Temperaturen den Sprung ins sonst so kühle Nass um ein Vielfaches erträglicher. Und dank der kurzen Tage hatte man auch keineswegs das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Schließlich war die Sonne auch im Anschluss des Trainings noch nicht aufgegangen.
Trotz dieser Umstände war ich natürlich angehalten, meiner Routine zumindest in Teilen zu entfliehen. So genieße ich es regelmäßig, mich nicht an starre Essenspläne halten zu müssen und mir eine beinahe stoische Gelassenheit diesbezüglich zu eigen zu machen. Und damit meine ich nicht, wie es mir eine Schülerin neulich mitteilte, als Profisportler auf Süßigkeiten oder ähnliches verzichten zu müssen. Nein, die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die Trainingseinheit stets geladen zu absolvieren und die Speicher sodann unmittelbar wieder aufzufüllen, um eine maximale Regenerationswirkung zu erzielen. Darüber hinaus kann ich mir in meiner Offseason Zeit nehmen, Gerichte zuzubereiten, die eine eingehende Auseinandersetzung mit der Materie voraussetzen. So zog ich also los, um die auf meiner Einkaufliste aufgeführten Lebensmittel, namentlich Erdnüsse (nicht gesalzen), Teriyaki-Soße und Glasnudeln zu erwerben, um die Voraussetzungen für mein selbstgestecktes Ziel der soliden Zubereitung eines Pad Thais zu schaffen. 10,50 Euro sollte ich hierfür berappen und schnell feststellen, dass ich mit dem Asiaten um die Ecke besser bedient gewesen wäre. Meiner Freundin hingegen schmeckte es. Das sagte sie zumindest. Vermutlich aber sprach ihre soziale Ader. Sie weiß um meine Kritikunfähigkeit und saß doch neben mir auf der Couch, als ich zum Ende eines Trainingstages einen Anruf meines Trainers erhielt, in welchem mir dieser unverblümt aufzeigte, dass ein VI von 1,07 auf dem Rad seinen Ansprüchen nicht gerecht werde. Ich wiederum reagierte ganz im Sinne meines generationalen Stereotyps: Gereizt.
Auch das Weihnachtsessen bietet ausreichend Gelegenheit, jene Diskrepanzen ins Blickfeld zu rücken. Nicht nur kritikunfähig, sondern auch faul seien wir jungen Leute. Doch wenngleich ich mir bislang Mühe gebe, den Tischfrieden zu bewahren und ausdrücklich NICHT darauf verweise, dass jedes fünfte deutsche Kind in Armut lebt, Studienkredite mit zweistelligen Zinssätzen ausgeschrieben werden, es kaum noch bezahlbaren Wohnraum in Großstädten gibt und das Eigenheim zur Utopie wird, gleichzeitig die Renditen aus Vermögen und Arbeit immer weiter auseinanderdriften, wir aufrüsten, aber nicht investieren, und nebst all dieser Umstände zum Kanonenfutter erkoren werden, um für einen Nationalstaat zu kämpfen, der… entschuldigt, ich schweife aus.
Training nach Lust und Laune in der Off-Season | Foto: Simon Gehr
Naja, unabhängig vereinzelter Momente, in denen ich mir auf die Lippe beißen musste, genoss ich es ebenso, mich während der Weihnachtsfestivitäten ausnahmsweise nach keinem eng getakteten Trainingsplan richten zu müssen. Auch mal, das Mittagsessen verdauend, mit der Familie auf der Couch herumzulungern, anstatt wie sonst in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das heimische Hallenbad aufzusuchen. Das Smartphone allerdings tat meinem rastlosen Gemüt keinen Gefallen. Denn der Algorithmus weiß um meine Malaise.
Die Zeit zwischen den Jahren sorgt bei mir regelmäßig dafür, dass ich geneigt bin, große Projekt in Angriff zu nehmen, für die ich eigentlich keine Zeit habe. Ganz grundsätzlich ist es sicher nicht zu beanstanden, mit neuem Elan, neuen Ideen und einer gehörigen Portion Inspiration ins neue Jahr zu starten. Unlängst aber verspürte ich große Unruhe und mit ihr das drängende Gefühl, nun endlich tätig werden zu müssen. Die mir eingespielten Bilder und Videos führten nicht nur zu einer stetig wachsenden Unzufriedenheit mit meinem Status quo, sondern zeigten mir auch abermals die bloße Wucht der sozialen Medien auf. Besonders junge Männer scheinen empfänglich für Content rund um das Thema Persönlichkeitsentwicklung. Ebenso begehen diese Männer heute viermal häufiger Selbstmord, missbrauchen dreimal häufiger Drogen und landen zehnmal häufiger hinter Gittern als ihre weiblichen Altersgenossen. Auch strukturell sind junge Männer im Jahr 2024 schlechter aufgestellt als heranwachsende Frauen, was auch eine Erklärung dafür liefert, wieso diese so häufig rechte Parteien wählen.
Der Markt um Coaches, die andere Coaches darin beraten, wie diese wiederum Coaches darin unterstützen können, Coaches im Rahmen ihres Coachings zu coachen, boomt. Und meine Malaise hat ein Ende, als ich realisiere, dass mir besagte Internetmenschen am Ende doch nur wieder ein Framework verkaufen oder mir hinsichtlich des STORYTELLINGS auf meiner Homepage unter die Arme greifen wollen. Die Idee der Eröffnung eines eigenen YouTube-Kanals hingegen ließ mich länger nicht los. Schon mehrmals wurde ich darauf aufmerksam gemacht, ich bringe die entsprechenden Charakteristiken hierfür mit. Doch wenngleich ich nicht so recht weiß, ob ich dies als Kompliment werten darf, schätze ich mein Privatleben und bilde mir ein, doch bereits sehr fortschrittlich in meiner Art und Weise zu sein, wie ich über diverse Plattformen kommuniziere.
Mit meinem YouTube-Kanal wiederum, denke ich mir in meiner philanthropischen Überheblichkeit, würde ich meiner Audienz bedeutend mehr mitgeben. So könnte ich auch mal etwas FÜR die Gesellschaft tun, anstatt Tag ein, Tag aus in meinem stillen Kämmerlein vor mich hinzutrainieren. Könnte beispielsweise darauf hinweisen, dass man die Beitragsbemessungsgrenze reformieren sollte und dass eine Anhebung des Mindestlohnes nachweislich Wirtschaftswachstum herbeiführt. Klar, ein Produkt hätte ich nicht zu bewerben und auch leider keine Partner, die willens oder fähig wären, ein solches Projekt zu unterstützen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, oder?
„Werde jetzt Teil meines Teams!“, lese ich auf der Homepage eines befreundeten Profitriathleten. Als hätte ein Siemens-Vorstand nichts Besseres zu tun, als sich den lieben langen Tag durch Websites zu klicken, um sich dann obendrein zu denken: Ja genau, da hätten wir Bock drauf, den unterstützen wir von nun an. Weil ich selbst als fester Bestandteil der Szene nur wenige AthletInnen kenne, die voller Inbrunst behaupten können, vom Wettkampfsport an sich leben zu können, gehört diese realitätsferne Hoffnung weiter zur Norm. Leider sind die Mittel im Profisport sehr ungleich verteilt und immerzu kaschiert der Verweis auf den Fortschritt des Triathlonsports an sich, analog zur ewigwährenden Debatte um Generationen, doch wieder nur Ungleichheiten innerhalb des Systems.
Traumjob Triathlonprofi? | Foto: Simon Gehr
Mit fortschreitendem Alter, sofern man sich in der privilegierten Situation wiederfindet, eine Nische ausgekundschaftet zu haben und aus dieser ein Einkommen zu erwirtschaften, liegt es nahe, liberalen Gedanken vermehrt Verständnis entgegenzubringen. Jeder kann es schaffen, predigen diese Menschen sodann im Internet. Und ebenso tun dies Sportler, ganz natürlich, indem sie sich beim kräftezehrenden Training filmen oder Wettkampfaufnahmen mit einem motivierenden Begleittext unterlegen. Der Sport gilt gemeinhin als vorbildliches Beispiel für Chancengerechtigkeit und die Idee, selbst für etwaigen Erfolg (und eben auch Misserfolg) verantwortlich zu sein. Zwar lieben wir alle die Aufstiegsgeschichten nach Gusto des amerikanischen Traumes und sehnen uns nach dem einstigen Versprechen, dass harte Arbeit mit Wohlstand einhergeht, doch ist selbst das meritokratische Musterbeispiel des Leistungssportes nicht frei von Zweifel. Eines jedoch müssen wir uns deshalb stets vor Augen führen: Ja, jeder kann es schaffen. Aber nicht alle.
Weil der Kapitalismus von der Unvollkommenheit der Konsumenten zehrt, tun die sozialen Medien ihr Allermögliches, um uns chronisch unzufrieden zu machen. Das immerwährende Postulieren, jeder sei seines eigenen Glückes Schmiedes, lanciert einen Tross an Abgehängten, der nicht nur unser gesellschaftliches Miteinander, sondern auch die Unversehrtheit des Nachwuchses nachdrücklich in Gefahr bringt. So deuten interne Studien von Facebook darauf hin, dass die Plattform bei etwa einem Drittel der befragten Mädchen Körperunzufriedenheit und in dieser Folge Suizidgedanken verstärkt. Es sind die Smartphones, Kinder.