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Ich hatte Hunger

Ich hatte Hunger

Ich hatte Hunger

Ich sitze mal wieder eingepfercht in Dreierreihen, auf 29B einer ungarischen Billigfluggesellschaft. Bevor ich, wie es mir die freundlich dreinblickende Flugassistentin anrät, den Flugmodus meines Smartphones einschalte, überprüfe ich ein letztes Mal die geografische Lage meines AirTags, um mich mental auf eventuelle Unannehmlichkeiten bei meiner Zwischenlandung in Budapest einzustellen. Regelmäßig ist es ein Graus, mit einem Fahrrad um die Welt zu reisen. So stellt sich mitunter zwar eine gewisse Routine ein, doch traue ich dem Braten auch nach jahrelanger Erfahrung mit allerlei Formen der Gepäckbeförderung nur unzureichend. Erwartungsgemäß mündete auch diese Reise in einem Streitgespräch am Schalter. Nicht angemeldet, nicht bezahlt, die übliche Leier.

Dabei, und das geht mir in Anbetracht dieser Umstände nur schwer über die Lippen, wurde der junge Herr beim Check-In schlicht Opfer des Systems. Nicht nur, weil der Computer beschloss, ohne Begleichung der Kosten für das Sperrgepäck kein Boardingticket drucken zu wollen, sondern auch, weil ich mir sicher bin, dass die Kindheitsträume dieses Mannes nicht vorsahen, sich Tag für Tag mit verärgerten Passagieren herumzuärgern und damit einer Tätigkeit nachzugehen, welche nicht selten bestreikt wird, weil deren Entlohnung trotz Tarifbindung kaum zum Überleben ausreicht. Bei dem Gedanken daran, wie viele Niedriglohnbeschäftigte wohl an der unliebsamen Verfrachtung meines Heiligtums beteiligt sind, wird mir schwummrig. Die Flugsuchmaschine meines Vertrauens hatte mir ungefragt lediglich darüber Auskunft gegeben, dass diese Teilstrecke mit rund 201kg CO2-Emissionen einhergeht. Man kann es drehen und wenden, wie man will, beides ist absolut scheiße.

INCYLENCE Blog Jannik Schaufler Cycling Socks Running Socks Triathlon SocksJannik Schaufler hat seinen Lebensmittelpunkt mittlerweile ins spanische Girona verlegt | Foto: Simon Gehr

Die Locator-App zeigt an, dass sich das Fahrrad nahe dem Flugzeug befindet. Um etwas runterzukommen und um meine Handysucht auch nach der Aktivierung des Flugmodus weiter zu stillen, durchforste ich mein Fotoalbum. Die ersten Rennbilder haben es über den altmodischen Umweg durch den Urvater der sozialen Medien bereits in meine Cloud geschafft. Wenige Stunden zuvor hatte ich an einem Triathlon teilgenommen. Wobei irgendein Triathlon der Sache wohl genauso wenig gerecht wird wie die Verniedlichung einer bloßen Teilnahme.

Als ich meiner Oma (los, anrufen!) von diesem Renneinsatz erzählte und sie in feinstem schwäbisch „Wo isch däs?“ entgegnete, umschrieb ich die Lage Abu Dhabis mit arabischer Wüste. Hier also, mitten im Nirgendwo, erhielt ich meine erste Chance auf der Weltbühne. Auf einem Formel-1 Kurs. Das kannst du dir nicht ausdenken.

INCYLENCE Blog Jannik Schaufler Cycling Socks Running Socks Triathlon SocksMit Highspeed durch die vollgepackte Triathlon Saison | Foto: Simon Gehr

Die Vereinigten Arabischen Emirate zehren von ihren Ölreserven. Um der Ausschöpfung dieser Bodenschätze in Zukunft entgegenzutreten und die Bevölkerung vor potentiellen Wohlstandseinbußen zu bewahren, wurde der Tourismus zum Kompensationsmittel auserkoren. So häufen sich dort Wasserparks, amerikanische Hotelketten und eben Highspeed-Rennstrecken. Wem das Land im Nahen Ostens allerdings rein über Prunkbauten in Dubai geläufig ist, der wird staunen: UAE weist eine gerechtere Vermögensverteilung wie sein deutscher Moralprediger auf.

Ich scrolle weiter. Ein Foto des Zielsprints. Ich führe mir den Wettkampf gedanklich nochmals vor Augen. Erinnere mich an die Ehrfurcht, die mich überkam, als ich umgegeben von meinen Idolen von den Offiziellen auf das Line-Up vorbereitet wurde, an die Anspannung, welche für Außenstehende sichtlich spürbar gewesen sein muss, als der Herzschlagsound unmittelbar vor dem Startschuss erklang, und vor allem den Flow-State, der von diesem Moment an einsetzte.

Mit dem Ergebnis bin ich zufrieden. Obgleich, denn auch das ist mir in meiner Karriere bereits unterlaufen, ich genau weiß, wie schmerzhaft sich eine Niederlage auf 29B sitzend anfühlt. Hatte ich eine kostenintensive Reise auf mich genommen und konnte mein Potential vor Ort nicht abrufen, ersuchte mich eine große Leere. Sodann saß ich grübelnd über den Wolken und beruhigte mich mit der Existenz anderer Dramen, die mir erspart geblieben waren. Ich weiß von Athleten, die, um dem vom Weltverband aufgesetzten Rennkalender Einhalt zu gebieten, mittlerweile sechsstellig verschuldet sind.

INCYLENCE Blog Jannik Schaufler Running Socks Cycling Socks Triathlon Socks Als Triathlonprofi auf der Kurzdistanz läuft Jannik Schaufler weltweit um wichtige Weltranglisten Punkte | Foto: Simon Gehr

Ich zoome. An den neuen Rennanzug muss ich mich erst noch gewöhnen. Auch dieser entspricht den Normen des Weltverbandes, ergänzt durch Vorgaben des national zuständigen Sportverbandes. Beide bestimmen außerdem, wer letztlich für Wettkämpfe nominiert wird. Ausschlaggebend hierfür ist und bleibt die Weltrangliste, deren Punkte man sich in Zeiten des Klimawandels erfliegt. Mehr Geld, mehr Flüge, mehr Punkte. Mein Trikot ziert ein Aufdruck eines Sponsors: There is no planet B.

In meinen Augen unterläuft dieses System auf diese Weise nicht nur vielschichtige Gerechtigkeitsaspekte, sondern steht auch in einem Widerspruch zu dem, was wir selbstständigen und damit vermeintlich selbstbestimmten Profisportler unter Freiheit verstehen. Wohingegen ich jahrelang der Meinung war, diese komme vor allem in einer möglichst großen Anzahl an Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen zum Ausdruck, vermag ich heute den wahren Ursprung dieses Gefühls auszumachen. Eliud Kipchoge setzt ihn mit Disziplin gleich und ein Großteil der Ausdauersportler, ganz gleich welcher Leistungskategorie, pflichtet ihm bei. Mit allerlei Gadgets soll die Leistung sowie das Wohlbefinden optimiert werden. Wir stoppen Schwimmbahnen, überprüfen Herzfrequenzen und manch einer testet gar Laktat. Wir tracken, halten uns stur an Trainingspläne. Wir lieben es, Dinge unter Kontrolle zu haben. Für uns Ausdauersportler, diese doch sehr eigentümliche Spezies, ist genau das Freiheit.

INCYLENCE Blog Jannik Schaufler Running Socks Cycling Socks Triathlon SocksZwischen Trainingsplänen, Vorgaben und Datenmengen | Foto: Simon Gehr

Vor wenigen Jahren ist mir dieses Gefühl abhandengekommen. Am Bundesstützpunkt riet mir eine Vorbildfunktion bei einer gemeinsamen Trainingseinheit zu einer Ernährungsumstellung und auch das Aushängeschild des deutschen Triathlonsports, seinerseits Olympiasieger, berichtet in seiner Biografie von einer strengen Reis und Obst Diät im Vorfeld der Spiele. Als wir sodann allwöchentlich montags einer nach dem/der anderen vor versammelter Mannschaft auf die Waage gestellt wurden und mir unser damaliger Athletiktrainer ein Programm zuschusterte, welches so wortwörtlich, dabei helfen sollte, endlich meinen Babyspeck loszuwerden, war es um mich geschehen. Eine Essstörung, welche ich öffentlich natürlich nie derart betiteln würde, sorgte dafür, dass ich besonders in den intensiven Sommermonaten regelmäßig nachts wach wurde. Ich hatte Hunger.

Die Annahme, nicht mehr Herr meiner Instinkte zu sein gepaart mit der düsteren Vorahnung, auch in der kommenden Nacht die Hoheit über meine Ruhezeit zu verlieren, sorgte für Frust und, um den Bogen zur Ausgangsthematik zu schlagen, zu einem Kontrollverlust, der mir vor Augen führte, dass Freiheit auch darin begründet sein kann, nicht zum Sklaven seiner Triebe und Gelüste zu werden. Das Gefühl, frei zu sein, ist dabei so individuell wie unsere Lebensentwürfe. Man muss nicht als Altruist geboren sein, um sich seiner Privilegien bewusst zu sein. Für die allermeisten Menschen beginnt Freiheit dann, wenn die Lohnarbeit beendet ist. Mein diskursiver Gegenpart vom WizzAir-Schalter könnte ein Lied davon singen.

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