Ready or not
Dieser Text sollte schon sehr viel früher fertiggestellt sein, aber mir ist leider was dazwischengekommen. Ich würde zu gerne irgendwas davon schreiben, dass mich ein kurzfristiger Zwischenfall ganz urplötzlich überrascht hätte. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass der Grund für meine Verspätung nichts anderes als ein Ereignis ist, das ich monatelang vorbereitet habe.
Trotzdem ging am Ende alles viel zu schnell und es hat mich auch dieses Jahr wieder eiskalt erwischt. Auf einmal es so weit und eigentlich wollte ich vorher doch noch so vieles erledigt haben. Hals über Kopf bin ich in die neue Triathlon-Saison hineingestolpert. Mehr schlecht als recht. Ehe man sich‘s versieht, stehen die ersten Rennen vor der Tür und sportliche Highlights, die gerade eben doch noch in weiter Ferne lagen, rücken mit einem Mal in unvorstellbarer Geschwindigkeit näher.
Längst befinden wir uns mitten in der Zeit des Jahres, in der man an jedem Wochenende und gelegentlich sogar unter der Woche vor dem Dilemma steht, welches der vielen Sportevents man denn nun verfolgen soll. Ich fühle mich gestresst und versuche, der Problematik mit mannigfaltigen parallel nebeneinander herlaufenden Bildschirmen, Live-Tickern, Streams und Übertragungen Herr zu werden. Multi-Tasking ist gefragt. Das einzige nachhaltig wirksame Rezept, um sich dieser Reizüberflutung zu entziehen und den Fokus auf lediglich eine priorisierte Veranstaltung zu lenken, lautet deshalb: Sich selbst an die Startlinie stellen.
Kopf runter: die Rennsaison ist in vollem Gange | Foto: Philipp Seipp
Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass sich ein Großteil der LeserInnen zumindest gelegentlich für diese Lösungsvariante entscheidet und sich daher nicht nur passiv, sondern auch mit vollstem Körpereinsatz längst inmitten des ganz normalen Wettkampf-Wahnsinns befindet. Darum müsste ich wahrscheinlich gar nicht allzu ausführlich werden, wenn ich davon spreche, dass man dann plötzlich mit ganz anderen Sorgen konfrontiert ist als dem Eurosport Player.
Ständig sind da diese Gewissensbisse: Ist meine Form gut genug? Hat sich das Wintertraining, das mich nicht nur lange, zähe Stunden auf dem Rollentrainer, sondern auch Überwindung gekostet hat, am Ende gelohnt? Hätte ich vielleicht noch öfter schwimmen gehen sollen? Und wie viele Stoßgebete habe ich in den letzten Wochen schon vorm Schlafengehen gen Himmel geschickt, ich möge doch bitte gesund bleiben und nicht in letzter Sekunde noch irgendeinen nervigen Infekt einfangen, der meine Wettkampfpläne im Nu zunichtemacht!
Niemand setzt sich gern unnötig hohem Druck aus und doch sind wir alle getrieben von dem Wunsch, dass sich das, wofür wir den ganzen Winter hingebungsvoll geackert haben, jetzt schon bitte auch irgendwie auszahlen soll. Es kann frustrierend sein, monatelang ohne ein zählbares Ergebnis vor sich hin zu trainieren. Jetzt muss abgeliefert werden. Ready or not, here I come.
Vom Track auf die Rennstrecke | Foto: Drozphoto
Hand aufs Herz: Wer wundert sich da noch, dass wir TriathletInnen ein aufs andere Mal ganz schön verbissen rüberkommen? Das Motto, nach dem wir – egal ob Hobby- oder ProfiathletIn - an die ganze Sache herangehen, lautet in unseren Breitengraden: Im Winter wird trainiert und im Sommer präsentiert. Und nicht zum ersten Mal stelle ich mir die Frage, ob diese Einstellung überhaupt so gesund sein kann.
Erst vor wenigen Wochen hatte ich beim Abendessen im Trainingslager ein Gespräch, das sich genau darum drehte. Ich war mit einer großen Gruppe von TriathletInnen in der Toskana, um meiner Form den letzten Feinschliff für die Saison zu verpassen. Und von dem, was dabei rauskam, war ich reichlich frustriert: Mein Training lief alles andere als nach Plan. Bereits seit einiger Zeit hinderten mich verschiedene kleinere und größere Ärgernisse am Radfahren und ich musste das Training entweder schon nach wenigen Minuten unter Schmerzen abbrechen oder fühlte mich gleich schon so elend, dass ich es noch nicht mal versuchen wollte. Meine Geduld und selbst mein sonst sehr ausgeprägter Optimismus waren fast komplett verschwunden: „Mir fehlen so viele Trainingsstunden im Sattel. Wie soll ich das nur aufholen? Im Prinzip kann ich die ganze Saison jetzt schon in die Tonne treten“, beklagte ich mich bei den anderen, die mit mir am Esstisch saßen.
Vorstart Nervosität | Foto: Allgäu Triathlon
Eine befreundete Triathletin, die in Australien aufgewachsen ist und dort auch bis vor kurzem noch gelebt und trainiert hat, konnte meinen Frust nur allzu gut verstehen: „Man hat hier zu wenig Zeit für Wettkämpfe“, meinte sie, „in Australien läuft das ganz anders. Da ist eigentlich das ganze Jahr über Saison, weil es eigentlich keine Jahreszeit gibt, in der keine Rennen stattfinden. Dadurch teilt man sich den Saisonverlauf irgendwie viel bewusster danach ein, wann man fit ist und wie schnell der eigene Körper regeneriert. Der Wechsel zwischen Formaufbau, Wettkampfbelastung und Erholung kann viel individueller gestaltet werden, als wenn nur ein paar Sommermonate in Frage kommen. Hier in Europa haben die Leute viel mehr Druck, innerhalb von kurzer Zeit alles abzurufen, was sie in einem Jahr erreichen wollen. Das ist nicht nur Stress für den Körper, sondern auch eine immense mentale Belastung, der man sich da aussetzt – egal, wie leistungsorientiert man das Ganze sieht.“
Ich konnte nicht anders als zustimmen. Denn klar, die Verdichtung der Wettkampfsaison auf wenig Monate sorgt in Europa für eine irre Anhäufung an Rennen, bei der AthletInnen aus anderen Regionen dieser Welt vermutlich schwindelig wird. Wir Europäer kennen es natürlich nicht anders, aber Fakt ist, dass sich unser Wettkampfkalender nicht nach dem AthletInnenwohl richtet, sondern ganz primitiv nach, genau, dem Wetter.
Rein ins kalte Nass | Foto: Allgäu Triathlon
In den Wintermonaten kann man bei uns eben keinen Outdoorsport machen, in dessen DNA Straßenradsport und Freiwasserschwimmen verankert sind. Trotzdem muss man sich das ab und an vielleicht ein bisschen mehr vor Augen führen, um zu vermeiden, sich selbst zu viel zuzumuten. Der Sommer in Deutschland und den meisten Teilen Europas ist kurz und das ist jammerschade. Aber andererseits kann man das Ganze auch aus der Perspektive sehen, dass es eine unheimliche Vorfreude erzeugt. Wenn wir alle die warmen Monate und die Wettkämpfe mit unzähligen anderen leidenschaftlichen TriathletInnen dann umso mehr genießen können, ist schon viel gewonnen.
Das Einzige, das wir nicht tun dürfen, ist, uns aufgrund der begrenzten „Showtime“ allzu sehr unter Druck zu setzen. Am besten ist es immer, Alternativen zu haben und nicht zu verbissen an einem Race-Plan A festzuhalten, der manchmal einfach nicht funktionieren kann, weil neben dem Sport eben auch noch das ganz normale Leben stattfindet und man deshalb doch hier und dort ein wenig mehr Regenerationszeit benötigt oder Tag X einfach nicht der Tag ist, an dem man auf den Punkt fit ist.
Showtime: in den Sommermonaten wird abgeliefert | Foto: Drozphoto
Mein lang ersehnter Start in diese Saison war zum Beispiel ein klassischer Fehlstart. Ich hatte mir zu den Problemen auf dem Rad in der Vorwoche auf der Anreise auch noch einen Infekt eingefangen. Ich gab mir zwar reichlich Mühe, aber das Rennen endete für mich vorzeitig nach zwei Dritteln der Radstrecke. Ärgerlich, aber auch ganz schön okay. Wir sind keine Maschinen und nein, in unserem Sport ist die Saison zwar nicht unendlich lang, aber das sollte kein Grund sein, sich währenddessen keine Schwächephasen zugestehen zu dürfen.
Es hilft, sich daran zu erinnern, dass es das ganze Jahr über gute und schlechte Tage gibt. Es ist rein rechnerisch unmöglich, dass unsere Racedays immer auf gute Tage fallen. Da kann man selbst noch so vieles richtig machen. Man steckt nicht drin, wenn plötzlich ein technischer Defekt um die Ecke kommt, Probleme bei der Verpflegung auftreten oder doch wieder das Wetter, der alte Spaßverderber, mit Gewitter, Wind oder Hagel uns einen Strich durch die Rechnung macht. Aber die andere Seite der Medaille ist: Es gibt sie auch, die Tage, an denen es einfach läuft, obwohl wir gar nicht damit rechnen. Und so wurden das zweite und das dritte Rennen der Saison nach meinem Auftakt zum Vergessen unwertet zum vollen Erfolg. Nicht, dass alles nach Plan gegangen wäre. Aber wo liegen Theorie und Praxis schon genau deckungsgleich übereinander?
Sobald wir mit ein bisschen mehr Lockerheit an die Sache herangehen und uns zugestehen, dass die Welt nicht untergeht, wenn mal alles schiefläuft, lösen sich Stress und Performancedruck ganz schnell in Luft auf. Mehr bleibt davon nicht übrig. Darum ist meine Ausrede, warum dieser Text so spät erscheint, zwar leider auch nicht mehr als ein kleines Luftschlösschen, aber sei’s drum: Herzlich willkommen in der Wettkampf-Saison 2023! Ich bin mir sicher, ihr macht was draus. Aber vergesst nicht, auch in bisschen die Sonne zu genießen, wenn sie scheint.