Quo vadis
Quo vadis
Ich schluchze, wann immer ich Menschen in diesen heilbringenden Vorweihnachtswochen eine besinnliche Weihnachtszeit wünsche. In erster Linie, weil das Wort besinnlich selbstredend nicht fest im Wortschatz meiner Generation verankert ist. Über die Lippen gehen, nein. Doch e-postalisch möchte ich eben Eindruck schinden, möchte seriös wirken. Ja, neuerdings habe ich sogar eine schicke Email-Signatur. Zum anderen aber, und daher rührt der wahre Trugschluss, vermag so ziemlich gar nichts langsam und behaglich, friedlich und gelassen daherkommen in den Tagen vor dem großen Fest. In der Geschäftswelt ist man immerhin ehrlich und bedient sich hochfrequent der modernen Floskel des EOY-Stresses. Antworten auf meine Emails bekomme ich daher frühestens im Januar. Die Bilder von den (!) Weihnachtsfeiern nehme ich augenrollend zur Kenntnis und suche meiner mentalen Gesundheit zuliebe Zuflucht im Privaten. Hier tut man ja alles, um eine künstliche, uns durch mediale Aufarbeitung einverleibte Stimmung zu kreieren. Weihnachtsfilme und endloslaufende Jingle Bells Schleifen als Genugtuung dafür, dass zum Ende des Kalenderjahres verflixt nochmal gar nichts mehr zu funktionieren scheint. Sogar eine die Toilette abtrennende Schiebetür in diesem überfüllten Schnellzug hat den Dienst für heute eingestellt. Das Internet ist zu langsam, um noch Geschenkeinkäufe auf den letzten Drücker zu tätigen, welche den Amazon-Postboten in frohe Ekstase versetzen, und verdammt nochmal es ist kalt auf diesem Teil des Erdballs. Aber Halt, hatte ich nicht den Norden Spaniens und damit die dort beinahe ganzjährig vorherrschende Tropenwärme zum Mittelpunkt meines Tun und Schaffens erkoren?
Ein Hauch von Ruhe | Foto: Marcel Hilger
Eine Fülle an Veränderungen, ich hatte es angedeutet. Doch bevor ich euch mit Einzelheiten diesbezüglich langweile, wagen ich einen Blick zurück und gehe, wie es mir das Jurastudium lehrte, chronologisch vor, um zu verdeutlichen, welche Umstände und Gegebenheiten dazu führten, dass ich heute österreichische Gleise anstelle von französischen Autobahnen mit meiner Beförderung gen Heimat betraue. Genau dort nämlich verbrachte ich Neujahr, im Auto nebst meiner Liebsten, immer auf der Suche nach der nächsten aire de repos, immer auf der Lauer vor radars stationnaires. Das erste Mahl des Jahres gebührte dem gelben M und es dauerte keine vierzehn Tage bis mir mein Vater ein Bild eines unliebsamen Briefes der französischen Kollegen zusendete. Nichtsdestotrotz war die Stimmung enthusiastisch, schließlich hatten wir gerade zu spüren bekommen, wie vermeintlich schwerfällig das Training im zu dieser Jahreszeit doch sehr finsteren Nordeuropa zu meistern ist. Gesund und munter würden wir es uns nun wieder im wohlig warmen Girona gemütlich machen, um dort die Vorbereitungen für die kommende Saison einzuleiten. Drei harmonische Wochen gingen ins Land bevor es plötzlich chaotisch und mitunter sehr kompliziert wurde. In jedem Lebensbereich sollten schicksalsprägende Anrufe dazu führen, dass dem ruhigen Jahreseinklang ein jähes Ende gesetzt wurde. Bis heute weiß ich nicht, wie ich alleine in meinem Einzimmerapartment in Heidelberg sitzend auf diese Nachrichten reagiert hätte.
Zurück zur Routine | Foto: Simon Gehr
In der Gefühlslage begründet, ein Projekt zum Abschluss bringen zu wollen und einer Mission beizuwohnen, riss ich mich am Riemen und sah zumindest einen Teil der Herausforderungen, das liberale Jungbürgertum wäre stolz, als dornige Chancen. Es ging also weiter, in der inständigen Hoffnung, es auf eine Startliste der Weltmeisterschaftsserie zu schaffen, trainierte ich Stunde um Stunde, mit nun neuem Programm und also doch noch gleichem Sponsor. Auch andere Aspekte wendeten sich zum Besseren und ich war sichtlich erleichtert, zwei Wochen vor dem Auftaktrennen in Abu Dhabi, nachdem ich Tag ein, Tag aus die Warteliste aktualisiert hatte, eine Email erhalten zu haben, welche bestätigte, dass ich mein Debüt in der WTCS auf dem ikonischen Formel-1 Kurs werde geben dürfen. Der Trainer aber bremste meine Vorfreude. Wir seien noch mitten im Aufbau, er schaue sich das mal an, optimal sei es keineswegs. Und tatsächlich, so richtig schnell war ich im Training Mitte Februar noch nicht gelaufen und auch der letzte Wechsel vom Rad in die Laufschuhe lag rund vier Monate zurück. Weder war mein Material renneinsatzfähig, noch waren irgendwelche Flüge gebucht. Die darauffolgende Woche sollte anstrengend werden und ehe ich mich versah, saß ich wenige Stunden nach meinem ersten Einsatz in der höchsten Rennserie des Kurzdistanz-Triathlons schon wieder in einem Billigflieger zurück nach Spanien. Ein mich zufrieden stellendes Ergebnis, das aber auch seine Spuren hinterließ. Ein leichter Infekt ereilte mich und weil ich nicht ausreichend Punkte aus dem Persischen Golf mitbrachte, stand das nächste Rennen bereits in der Tür. Jener Europacup wiederum brachte eine solide Menge an Weltranglistenpunkten, aber auch die Gewissheit mit sich, in der spanischen Enklave in Melilla in diesem Leben keinen Triathlon mehr bestreiten zu werden.
Mit Hochgeschwindigkeit durch die Triathlonszene | Foto: Marcel Hilger
Weil ich auch weiter Wochen damit zubrachte sogar während des Trainings Startlisten für alsbald stattfindende Bewerbe durch zu forsten und die Wahrscheinlichkeit für weitere Startberechtigungen im Zeichen des olympischen Qualifikationsrankings im Frühjahr stetig kleiner wurde, entschied ich mich ersatzweise dazu, eine Mitteldistanz im nahegelegenen Peniscola in Angriff zu nehmen. Das retrospektiv schönste Event des Jahres, bei dem ich mich unter Anfeuerung von Kindheitsfreunden gemeinsam mit Kindheitsidolen auf dem Podium platzieren konnte. Die Form versprach gut zu sein und so nahm ich auch die kurze Reise nach Ibiza zur Multisport WM auf mich und verlebte dort nur wenige Tage nach meinem Einstand auf der Mitteldistanz ein rundum gelungenes Wochenende, und das ganz ohne Party. Nach zwei weiteren Trainingswochen, zu dessen jeweiligen Abschluss ich meiner Konkurrenz auf weit entfernten Teilen der Erde dabei zuschaute, wie sie Punkte einheimste, riss mir der Geduldsfaden. Reise ins italienische Cagliari mit der Hoffnung im Gepäck, während des Briefings auf die Startliste zu rutschen. Eine komplizierte Systematik und taktische Spielchen innerhalb des deutschen „Teams“. Auch hier blieb ich zum Zuschauen verdammt.
Sechs Tage später, wieder Briefing. In Madrid führte die Kausalkette aus Mensch, Klima und Regen zu einer derart miserablen Wasserqualität, dass die Europameisterschaften als Duathlon ausgetragen werden mussten. Kein Resultat, keine Punkte, dafür eine eilige, nächtliche Flugsuche im Hotelzimmerbett, denn das nächste Serienrennen in Montreal sollte unter meiner Beteiligung ausgerichtet werden. Und obwohl die Natur eines jeden Athleten in einer gewissen Rastlosigkeit, ja chronischen Unzufriedenheit begründet zu sein scheint, ließen mich sowohl mein zweiter Platz beim Zwischenstopp in Kitzbühel als auch mein 18. Platz in Montreal durchaus glücklich dreinblicken. Als ich sodann beim prestigeträchtigen Weltcup im ungarischen Tiszaujvaros das Rennen mitbestimmen konnte und Sechster wurde, konnte ich meine kurze Auszeit am Comer See sichtlich genießen. Ich war zufrieden und hatte das Gefühl, mein Potenzial peu a peu ausschöpfen zu können. Wohl aber verdrängte ich, dass ich am ersten Wochenende unseres Höhentrainingslagers im Engadin erneut auf die Zuschauerränge verdrängt worden war. Auch die deutsche Konkurrenz hatte gepunktet und so verfolgte ich das Rennen in Hamburg über den Bildschirm des Laptops. Ein leises Bestaunen, ein respektzollendes Abwinken und ein Paar mathematische Fertigkeiten später ereilte mich die Gewissheit. Das groß ausgeschriebene Ziel, eine Teilnahme beim Testevent in Paris, sie wurde mir durch das gute Abschneiden der anderen Deutschen versagt. Nach einem erfolgreichen Trainingsblock unter verminderter Sauerstoffsättigung ging es ersatzweise in die Türkei. Unter unsäglich heißen Bedingungen wurden hier die Europameister über die Supersprintdistanz ermittelt, wie auch in Abu Dhabi vor leeren Zuschauerrängen. Ich fühlte mich von vornherein unwohl und wurde Neunter. Ich war enttäuscht, ja peinlich gerührt und versackte in einer Mischung aus Höhen- und Sommerloch. Nach fünf Tagen, in denen ich mangels Alternativen unentwegt Spaghetti mit Tomatensuppe verzehrte, verspürte ich eine große Leere. Heimgesucht von dieser verrückten Gefühlswelt des Profisportes wich jene Niedergeschlagenheit schon bald Trotz, sie wich Stolz, einen weiteren Trainingsblock durchgestanden und die Form nochmals aufpoliert zu haben, wich Vorfreude auf den Weltcup im nahegelegenen Valencia, wich wiederum Enttäuschung und Ärger, ein besseres Ergebnis dort durch meinen eigenen Fehler mit der Ernährung aus den Händen gegeben zu haben. Sie wich. Und dann war sie weg.
"For those who grind in the dark to shine in the light!" | Foto: Simon Gehr
Ursprünglich sollte meine Weltcupsaison im September so richtig Fahrt aufnehmen. Bis zuletzt glaubte ich an einen Start im tschechischen Karlsbad. Die Vorbelastungen fühlten sich okay an, ich war wohl einfach noch müde von Platz neun in Valencia. Am Vorabend des Abfluges aber streikte der Körper. Bereits bei dem Gedanken, gleich meinen Radkoffer packen zu müssen, fieberte ich vor Erschöpfung. Das erste Mal in meiner Karriere sollte ich ein Rennen krankheitsbedingt absagen müssen. Leider jedoch wurden meine Symptome auch die nächsten Tage über nicht besser. Im Gegenteil, ein abrupter Gang ins Krankenhaus und die bitterböse Diagnose einer Lungenentzündung setzte meiner Saison, auch wenn ich das in meinem jugendlichen Überschwang nicht wahrhaben wollte, ein tragisches Ende.
Es folgte eine sehr schwierige Zeit, in der ich mir die großen Fragen stellte. Wie auch meine Mama bin ich mehr Realist als Träumer, weshalb ich schnell damit abschließen konnte, im nächsten Jahr nicht in Paris an der Startlinie zu stehen. Andere Dimensionen hingegen wogen schwerer. Will ich weiter so abhängig sein von Systematiken, auf welche ich kaum Einfluss habe? War es nicht einst die Freiheit, welche ich an meiner Tätigkeit als Profisportler so zu schätzen wusste? Welche Opfer bin ich bereit zu bringen, und für welches Ziel? Besonders letztere Frage machte mir zu schaffen. So bin ich der festen Überzeugung, dass wir nur dann erfolgreich im Sinne der Definition sind, wenn wir ein Ziel verfolgen, für dessen Erreichen wir bereit sind, entsprechende Einbußen hinzunehmen und Täler zu überwinden. Und weil ich auch der Ansicht bin, dass ein Scheitern vorprogrammiert ist, wenn diese Gewissheit ausbleibt, habe ich evaluiert und Entscheidungen getroffen, hin zu einer Neuadjustierung, die meine Gesundheit wieder in den Vordergrund rückt. Mit neuem Trainer, neuem Team und neuen Zielen neigt sich ein lehrreiches Jahr dem Ende zu. Nachdem ich zwei Monate Blut gehustet und den Sommer über beinahe den Spaß am Triathlon verloren habe, bin ich heute dankbarer denn je und freue mich sehr auf ein Weihnachtsfest im Kreise meiner Liebsten. Trotz EOY-Stress.