Das war hart!
Das war hart!
Wir schreiben Mitte Januar, die Saisonvorbereitung ist in vollem Gange. Die Zeit rennt, in vielerlei Hinsicht. Ich fahre mit dem Fahrstuhl nochmal hoch, um mir Handschuhe überzuziehen. Auch hier ist es Winter, wenn auch bedeutend angenehmer als in meinen heimischen Gefilden. Es ist Sonntag, 9:50 Uhr. Zur Abwechslung wird allwöchentlich in der Gruppe gefahren. Ein bunter Mix an Ausdauersportlern, sieben AthletInnen aus aller Herren Ländern. Bevor es losgeht, greife ich noch einem Kollegen in Schwierigkeiten unter die Arme, Treffpunkt La Comuna.
Eine kurze Abstimmung hinsichtlich der Route, etwas Jammern über die doch überraschend frischen Temperaturen, dann geht es endlich los. Flach, wellig, bergig: Der Norden Spaniens, ein Paradies für Radfahrer. Ich sichte Freunde auf dem Mountainbike. Ob die wohl ein Wattmessgerät montiert haben?
Ein Paradies für Radfahrer: die Spanische Sonne zieht viele Athleten in den Süden. (Foto: Marcel Hilger).
Die ersten Meter sind passé. Man tauscht einander aus, lernt einander kennen. Wie meist ist die Gruppe bestückt mit Menschen, deren Namen mir im besten Fall von Instagram geläufig sind. Andere Gesichter sind mir gänzlich fremd. Der Sport, respektive das gemeinsame Radtraining, bietet eine ganz wunderbare Möglichkeit, einander kennenzulernen, einander auszutauschen und voneinander zu lernen. Zwei Stunden ungezwungener Smalltalk, das kenne ich sonst nur von Tinder.
Dummerweise bedurfte es eines zweiten Versuches, mein Klickpedal zum Einrasten zu bringen. Chance verpasst, Reihe zwei. Das Gespräch ist nett. Ein Star unseres Sportes berichtet von krankheitsbedingten Strapazen zu Beginn des Winters. So langsam fühle es sich nun aber wieder nach Training an. Sie freue sich auf das anstehende Trainingslager. Gleichzeitig rücke der Beginn der Saison immer näher. In ihrer Mine erkenne ich trotz Helm, Buff und Radbrille einen alten Bekannten: Druck.
Die Lebensversicherung der Triathleten: Grundlagen Training im Winter. (Foto: Marcel Hilger).
Vergangenes Jahr befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Das Laufen noch sichtlich unrund, die Aufarbeitung einer Operation am Knie hatte sich verzögert. Der Ausdauersport mit all seinen Messinstrumenten erbarmungslos, die Mühle arbeitete. Auf der unerbittlichen Jagd nach Weltranglistenpunkten fiel die Entscheidung dennoch zugunsten eines frühen Saisoneinstieges. Heute weiß ich es besser.
Nein, heute bin ich frohen Mutes. Bislang läuft alles wie am Schnürchen. Eine neue Form der Dankbarkeit über die meist als selbstverständlich angesehene Gesundheit. Plötzlich ist sie spürbar und trägt mich durch den Alltag. Zu unserer aller Freude zeigt sich gar die Sonne. Die ersten Windwesten werden in der Trikotasche verstaut, ich tue dergleichen mit meinen Handschuhen. Ja, das Leben fühlt sich leicht an an diesem Sonntagmorgen. Ein Blick auf den Radcomputer, ich muss schlucken. Definitiv zu leicht.
Girona zehrt vom Tourismus. Der Einhunderttausend Seelen Ort gilt als das neue Mekka des Radsports. Der Nachfrage ergeben schießen exquisite Radboutiquen aus allen Löchern. Und selbst das kleinste Immobilienbüro schmückt sich mit einem Fixie im Schaufenster. Hier wohnhafte Profisportler erkennt man regelmäßig daran, dass sie Training und Laufsteg voneinander trennen. Meist sind sie in nur kleinen Radgruppen unterwegs. Denn auch eine gewisse Individualisierung findet großflächig Einzug in den Ausdauersport. Maßgeschneiderte Trainingspläne, unterfüttert mit Leistungsdiagnostiken und Feedback-Schleifen, gibt es heutzutage an jeder Ecke zu erwerben. Folglich ist stets eine Trainerperson präsent, zumindest gedanklich.
Auch ich genieße eine solche Fernbetreuung. Auch ich möchte Verantwortung abgeben. Die subtile Kunst, Entscheidungen einer Vertrauensperson abzutreten, der Anker meines Impetus. Drei Stunden stehen heute auf dem Trainingsplan. Untermalt mit einer Wattvorgabe. Nach 45 Minuten liege ich deutlich darunter. Das gibt einen Kommentar in der blauen App, da bin ich mir sicher. Weitere fünf Minuten ziehen ins Land. Ich werde immer nervöser. Wenn das so weitergeht, war das heute wirklich für die Katz.
Das Beratertum, vielmehr die Spezies der TrainerInnen, ist den Politikgestaltern nahe. Je nach Opportunität wird die eigene Trainingsphilosophie mit mehr oder weniger stichhaltigen Argumenten untermauert. Früher ASAP, also „as slow as possible“, des Stoffwechsels halber. Heute „time under pressure“ Theorie. Na, was denn nur.
Pace- und Wattvorgaben sind ständige Begleiter. (Foto: Marcel Hilger).
Ich hadere mit mir selbst. Bin angespannt, etwas wütend. Ein Mal die Woche wird das ja wohl erlaubt sein, ein Fünkchen Sozialsein, schließlich bin ich keine Maschine. Gleichzeitig habe ich mir große Ziele für das jüngst angebrochene Jahr gesteckt. Und außerdem zahle ich monatlich Geld für die Arbeit meines Trainers. Gebe ich mir die Blöße und verlasse die Radgruppe? Was will ich, und wenn ja, wie viele?
Mein Zynismus kommt nicht von ungefähr, bereits am Tag zuvor hatte ich viel Zeit und Energie an die Evaluation meiner Trainingsinhalte verschwendet. Utopische Wattvorgaben im Rahmen der ersten Vo2 Einheit des Jahres, eine Niederlage im sonst so beschwingten Trainingsalltag. Das professionelle Sporttreiben, einer der scheinbar wenigen ehrlichen Maßstäbe der Neuzeit.
Mitunter rast der Tacho. Eine Entscheidung muss her. Der Umgang mit Stresssituationen, in denen der Instinkt einzusetzen vermag, hängt maßgeblich davon ab, wie sehr ich mit mir selbst im Reinen bin. Selbstbewusstsein, eine Komposition aus Bodenhaftung und dem Wissen um die eigenen Stärken und Schwächen. Bin ich mir meiner Beweggründe gewahr, minimiere ich Raum für Zweifel. Schaffe ich es zudem, meine Fähigkeiten realistisch einzuordnen, setze ich Potenziale frei, die mir sonst verborgen geblieben wären. Denn, das lehrten mich zehn Jahre Leistungssport, am Ende geht es um Selbstvertrauen.
Leistungsdaten vs. Erlebnis: zwei teils konträre Parameter. (Foto: Damien Rosso).
Völlig gleich, ob Gen Z oder Millenial. Ja, ich lege Wert auf die Meinung meiner Mitmenschen. Seit jeher bewundere ich AthletInnen, welche die dem Leistungssport innewohnende Egomanie freudig kaschieren. Indem sie stets einen lockeren Spruch parat haben oder nach dem Wettkampf bei einem nicht alkoholfreien Kaltgetränk anzutreffen sind. Auch ich will zu diesem Typ Sportler reifen. Möchte samstags respektzollende Blicke auf der Tartanbahn ernten und sonntags für eine lockere Runde auf dem Rad zu haben sein. Möchte die harte Arbeit mühelos erscheinen lassen. Leichter gesagt als getan.
Nein, lasst uns ehrlich sein. Manchmal bedarf es klarer Entscheidungen, auch wenn diese schwerfallen. Die kräftezerrenden Intensitäten am Samstag mögen mich in einen Laktatrausch versetzen, meine Komfortzone verlasse ich hingegen im Zwischenmenschlichen. Wie so oft sind es eben gerade nicht die Trainingseinheiten an sich, die uns im Sport herausfordern. Wahrlich wachsen lassen uns andere Aspekte: Sich zu trauen, den Dauerlauf etwas langsamer anzugehen. Sich einzugestehen, dass man im athletischen Bereich externe Hilfe benötigt. Oder sich klar vor Augen zu führen, dass eine Plauderausfahrt am Sonntagmorgen mit meinen Zielen in Konflikt steht.
Ich schalte hoch, schere aus. Eine lieblose Verabschiedung und ich mache mich auf die Socken. In meinem Tempo. Das war hart.